Brno
Meine sehr verehrten Damen und Herren, willkommen zu dieser elften Ausgabe meiner Abenteuer in Tschechien.
Die Woche begann mit der Ankunft von Jens Otten, dem Entwickler eines der kürzesten Theorembeweiser der Welt – leanCoP. Auf diesem Theorembeweiser baut auch meine eigene Arbeit auf, daher war ich besonders begierig, mich mit Jens zu treffen. Er gab dann auch am Montag einen Vortrag über seinen neuen Theorembeweiser nanoCoP, der eine bedeutende Weiterentwicklung von leanCoP darstellt. Die Präsentation von Jens begeisterte mich dermaßen, dass ich ihn danach zu den technischen Details ausquetschte, denn obwohl auch dieser Theorembeweiser auf eine A4-Seite passt, ist die Informationsdichte dermaßen hoch, dass ich mehrere Tage gebraucht habe, um elf Zeilen Quellcode zumindest ansatzweise zu verstehen. Ich bin dabei so vorgegangen, dass ich die elf Zeilen in eine andere Sprache übersetzt habe und das Resultat dann Jens präsentiert habe, wobei er auf meine dabei aufgetretenen Fragen eingegangen ist. Diese Arbeit dauerte bis Mittwoch, als Jens sich wieder auf den Weg nach Potsdam machte.
Inzwischen tat sich einiges in meiner WG: Am Montag erhielt ich eine recht verzweifelte Nachricht meiner Mitbewohnerin Jeon, in der sie schrieb, dass unsere Vermieterin Kateřina sie für eine Diebin halte. Am Abend erklärte mir Jeon, dass Kateřina ohne ihr Beisein ihr Zimmer durchsucht und dabei einen ihrer Pullover und eine Handtasche in ihrem Schrank gefunden habe. Sie berichtete mir weiters, dass Kateřina auch in meinem Zimmer gewesen sei, und zwar nicht zum ersten Mal. An dieser Stelle fühlte ich mich wie in einer Geistergeschichte. Ich hatte keinen Grund anzunehmen, dass Jeon wirklich einen Pullover gestohlen haben sollte, denn ich hatte den Eindruck, dass Jeon finanziell eher bessergestellt war. Auf der anderen Seite konnte ich mir aber auch nicht vorstellen, dass Kateřina einfach so einen Diebstahl erfinden würde, denn – cui bono? Jeon kochte ja manchmal für die ganze Familie und nahm auch schon einmal die Kinder mit auf einen Ausflug in die Stadt, also wäre Kateřina sicherlich die letzte, die sich wünschen könnte, Jeon etwas anzukreiden, was sie nicht getan hatte. Die Kinder hatten auch kein ersichtliches Motiv, da sie sich mit Jeon gut verstanden. Wir argumentierten spaßhaft, dass durch das Ausschlussverfahren nur die Katzen übrigblieben, ihr den Pullover und die Tasche in ihr Zimmer gelegt zu haben. Jedenfalls hatte Kateřina von Jeon verlangt, so bald wie möglich auszuziehen. Glücklicherweise hatte sie mittlerweile ein Zimmer in der Malá Strána (Kleinseite) gefunden. Ich stellte ihr in Aussicht, am nächsten Tag (Dienstag) etwas mit ihr zu kochen, falls wir nicht von der Uni aus Abendessen gehen würden.
Am Dienstag gingen wir allerdings mit der Uni aus, und zwar auf den Petřin (Laurenziberg), von wo aus wir eine ausgezeichnete Aussicht auf Prag hatten, die allerdings durch die einsetzende Kälte etwas geschmälert wurde. Zurück in der Wohnung kam einige Minuten nach mir Jeon in mein Zimmer, schön angezogen und wutentbrannt: Wo ich denn gewesen sei? Sie hätte vier Stunden auf mich in der Malá Strána gewartet, denn ich hätte ihr doch gesagt, ich würde mich dort mit ihr treffen? Es stellte sich heraus, dass sie das Wort “wir” auf uns beide bezogen hatte, während ich damit die Leute von der Universität bezeichnen wollte, als ich sagte, “wir” würden Abendessen gehen. Es stellt sich immer wieder heraus, dass die Kommunikation mit Asiaten von Missverständnissen geprägt ist.
Am Donnerstag verabredeten wir uns dennoch für ein letztes Abendessen. Bevor ich allerdings bei Jeon an der Tür klopfte, begrüßte ich noch Kateřina, die mich auf ein vertrauliches Gespräch bat. Sie sagte mir mehr oder weniger das, was mir Jeon schon am Montag erklärt hatte, und sie wirkte auch genuin aufgebracht. Sie kam darauf zu sprechen, dass sie den Schrank von Jeon erst durchsuchte, als sie ein paar ihrer Kosmetika auf Jeon’s Regal liegen sah. Sie entschuldigte sich auch dafür, in mein Zimmer geschaut zu haben, und rechtfertigte sich damit, zuvor stundenlang nach ihren Sachen erfolglos gesucht zu haben. Mitten während des Gesprächs kam auf einmal Jeon in das Zimmer, und bald darauf begann eine heftige Diskussion, in der ich mäßigend zu wirken versuchte – mit mäßigem Erfolg. Die Diskussion endete dann mit den Worten Kateřinas zu Jeon: “I don’t believe any word you say.” Nach dieser eher fruchtlosen, mehrstündigen Diskussion kochten Jeon und ich noch etwas, und ich bekundete mein Interesse daran, sie nach Möglichkeit bald in ihrer neuen Wohnung zu besuchen. Damit endete ein weiteres Kapitel in meiner sehr bewegten Prager Wohnungsgeschichte.
Am Freitag Abend fuhr ich nach Brno zu meinen Freunden Klára und Jan. Ich kannte Klára von dem Universitätschor Innsbruck, in dem sie während ihres Erasmus-Semesters mitgesungen hatte, und Jan, seit ich auf ihrer Hochzeit in Hradec Králové (Königgrätz) eingeladen war, die auch ausschlaggebend für meinen Entschluss war, Tschechisch zu lernen.
Am Samstag fuhren wir in aller Frühe von Brünn nach Lednice. Dabei fiel uns schon am Brünner Hauptbahnhof auf, wie viele Leute unterwegs waren. In Lednice befindet sich ein Schloss der Familie Liechtenstein. Die Verknüpfung des Adelshauses mit dem Ort war offensichtlich, als schon auf dem Dorfbrunnen die Inschrift “Gott schütze die Familie Liechtenstein” stand. Das Schloss zählt heute zum UNESCO-Kulturerbe, und tatsächlich sind das Schloss und der umliegende Park wunderschön anzusehen.
Da wir allerdings mehrere Stunden auf eine Besichtigung hätten warten müssen, gingen wir bald weiter Richtung Valtice, wo wir eine vinobraní (also einer Art Weinmesse) besuchen wollten. Auf dem Weg dorthin waren wir dauerhaft von Radfahrern umgeben, denn es führte dort die EuroVelo-Route 9 entlang. Der erste Häufungspunkt von Radfahrern begegnete uns bei den Drei Grazien, die uns mitten im Wald begrüßten. Rundherum hatten fast alle Leute Weingläser in der Hand, was sich durch den kleinen Stand erklärte, der Wein um 20Kč pro Glas feilbot. Auch wir genossen dort jeder ein Gläschen.
So alkoholisch gestärkt gingen wir weiter zu dem Punkt “Rendez-vous”, der stark der “Arc de Triomphe” von Paris ähnelte. Auch dort hatte sich eine große Menge von Radfahrern breitgemacht, um den kolportierten letzten schönen Tag des Jahres zu genießen. Mir persönlich war dieser Tag allerdings fast ein bisschen zu schön, daher war ich froh, als wir dann nach 10km Marsch endlich Valtice erreichten. Dort machten wir einen dringend nötigen Zwischenstopp im Restaurant Amalia, wo wir es uns bei Schnitzel und Bier gut gehen ließen. Dann ging es zu dem vinobraní, wo wir 100Kč Eintritt zahlten. Gleich der erste Stand fiel mir schon ins Auge: Dort wurde mit einem kulinarischen “zážitek” (Erlebnis) geworben, nämlich mit dem Verzehr von Kakerlaken, schön illustriert mit dem Bild eines lachenden Insekts. Wir verzichteten auf derartige Leckereien und gingen stattdessen zu dem Konzert der Musikgruppe Hradišťan. Ich war noch so erschöpft von der Wanderung, dass ich leider einen guten Teil des Konzerts auf der Wiese verschlief, aber mir gefiel dennoch besonders das Stück Modlitba za vodu. Während des Konzerts hatten wir uns schon einen Wein gegönnt, und bei dem nächsten Konzert einer Geigenformation wurde es noch ein burčák. Nach diesem Konzert verließen wir die vinobraní zugunsten des Schlosses Valtice, in dem Klára auch schon einmal Konzerte mit der Flöte gegeben hatte.
Dann machten wir uns auch schon wieder auf Richtung Bahnhof, wo wir eine riesige, überwiegend alkoholisierte Menschenmenge vorfanden. Das Wort “burčák” war nicht nur im übertragenen Sinne in aller Munde; einige waren auch mit damit gefüllten Plastikflaschen unterwegs. Der Zug kam schon mit einiger Verspätung und schaffte es auch, diese auf der Weiterfahrt noch deutlich auszubauen. Wir hatten sogar Mühe, noch einen Stehplatz zu bekommen. Ein Mitfahrer sagte sinngemäß so etwas wie: “Ein solches Erlebnis bekommt man nur bei den České Dráhy geboten!” Auch nach unserem Umstieg in Břeclav war der Zug noch gerammelt voll von Weinmessen-Besuchern, die mit lauten Sprechgesängen Stimmung machten (ich erkannte zumindest die tschechische Nationalhymne wieder) oder die Reisezeit zur Weinverkostung nutzten. Am Abend zeigten mir Klára und Jan noch ein bisschen tschechische Musik, nämlich Jiří Suchý, der eine Mischung von Kabarett und Schlagern machte.
Am Sonntag gingen wir es deutlich gemütlicher an, nämlich mit einem kleinen Spaziergang durch Brno nach dem Mittagessen zur Villa Tugendhat und über die sehr schönen Lužánky (Augarten) zum tschechischen Höchstgericht (nejvyšší soud) und zum Konservatorium. Von dort fuhren wir mit der Šalina (Straßenbahn, Brünner Dialektwort abgeleitet von “Elektrische”) zurück zu Klára und Jan, wo wir noch einen Tee einnahmen. Dann machte ich mich mit Jan auf zur Straßenbahnhaltestelle, wo wir Zeugen einer Schlägerei wurden: Ein paar Männer gingen mit Knüppeln auf einen anderen los, gefolgt von einer größeren Gruppe Schaulustiger – augenscheinlich alles Roma. Diese wurden in dieser Gegend in größeren Mengen nach dem zweiten Weltkrieg angesiedelt und sind bei der restlichen Bevölkerung eher unbeliebt, was ich nach der Beobachtung der sich mir dargebotenen Szene nachvollziehen kann. Jan versicherte mir allerdings, dass die Roma weitestgehend unter sich blieben und somit für Außenstehende keine unmittelbare Gefahr gegeben sei. Die Szene löste sich auch relativ schnell auf, noch bevor die Polizei eintraf.
Ich wünsche meinen Lesern eine schöne Woche und bis bald! :)