Diese Woche stand bei uns unter dem Stern der Wohnungssuche. Mathilde verbrachte mehrere Stunden damit, ansprechende Angebote in Amsterdam zu suchen, die wir dann gemeinsam durchschauten und anschrieben. Am Ende hatten wir fünf Besichtigungstermine.

Der erste Besichtigungstermin war in der Albert Cuypstraat (im In-Viertel De Pijp), einer bekannten Amsterdamer Straße mit einem täglichen Markt, der unter anderem in der ARTE-Dokumentation Im Bauch von Amsterdam schön porträtiert wird. Erster Eindruck beim Eintritt in das Haus: Die extrem steile und enge Wendeltreppe zur Wohnung, bei der sich mir sofort die Frage stellte, wie um alles in der Welt man z.B. ein Klavier dort hochtragen kann? (Vermutlich wird solches Sperrgut über den Markt durch das Fenster gehievt, ein kostenloses Schauspiel für die Marktbesucher.) Es stellte sich heraus, dass diese engen Wendeltreppen ein Amsterdamer Charakteristikum darstellen, das wir bei so gut wie allen folgenden Wohnungsbesichtigungen antreffen sollten. Nächster Schock: die Fenster. Die einen lassen sich nicht richtig schließen, die anderen lassen sich kaum öffnen. Dafür war ich allerdings erstaunt, wie leise der Markt war. (Das mag allerdings auch den Corona-bedingt dezimierten Touristenmassen geschuldet sein.) Die Maklerin machte uns darauf aufmerksam, dass im ersten Jahr die Miete um 100€ reduziert ist, “due to Coronavirus”. Die Pandemie wildert also scheinbar auch recht stark auf dem Immobilienmarkt … Nachdem uns der allgemeine Zustand der Wohnung jedenfalls nicht zusagte, ließen wir uns auch nicht durch den Corona-Bonus locken und suchten weiter. (Nicht ohne am Albert Cuypmarkt noch eine Stroopwafel zu kosten.)

Unsere weiteren Besichtigungstermine führten uns ausschließlich in den Stadtbezirk Amsterdam-West, nämlich in die Van Spilbergenstraat, Elegaststraat, Postjeskade, und Esmoreitstraat. In der Van Spilbergenstraat fiel Mathilde eine Schranktüre beim Öffnen entgegen (lakonischer Kommentar der Maklerin: “yeah, you might need to fix that”), und auch sonst war der Allgemeinzustand nicht berauschend, wozu allerdings auch das sehr regnerische Wetter beigetragen haben könnte, das uns fünf Minuten vor unserer Ankunft mit dem Fahrrad komplett durchnässt hatte. (Das regnerische Wetter zog sich übrigens wie ein roter Faden durch die gesamte Arbeitswoche …) In der Elegaststraat, schon recht weit im Norden, sahen wir mit Klebestreifen notdürftig abgedichtete Fenster, die uns der dort noch lebende Russe stolz vorzeigte, sowie ein großes Netz über dem Balkon, das zum Zwecke der Taubenabwehr dort gespannt war. Die Wohnung in der Postjeskade gefiel uns dann allerdings schon recht gut, da sie zwei getrennte Schlafzimmer auf einen Innenhof vorweisen und sich das Wohnzimmer mit einer Sicht auf eine Gracht brüsten konnte. Die Makler waren allerdings relativ neugierig und verlangten Formulare mit allen möglichen Details zu Anstellungsverhältnissen (vom Arbeitgeber unterschrieben), Einkommensverhältnissen und weiß der Kuckuck noch für Verhältnissen.

Doch noch war ein weiterer Besichtigungstermin offen, nämlich der in der Esmoreitstraat. Und dieser, obwohl besagte Straße relativ weit nördlich (und damit entfernt von meiner Arbeitsstelle) liegt, war der überzeugendste von allen. Endlich eine etwas breitere Stiege, endlich gut dichtende Fenster und Türen, und endlich eine gut eingerichtete Küche mit einem eingebauten Backofen. Inklusive Schlafzimmer mit Aussicht auf einen autofreien Innenhof, Balkon sowie separatem (Arbeits-?)Zimmer in einem höheren Stockwerk. Und das alles zum geringen Preis von 1,475€/Monat für 62m²! Wer bei einem solchen Preis jetzt schluckt, dem sei gesagt, dass dies für Amsterdam einen recht guten Preis darstellt. Diese Wohnung war auch die einzige, für die wir eine im Vorhinein aufgezeichnete Video-Besichtigung gesehen hatten, was ich (falls Makler mitlesen ^^) sehr informativ und nützlich gefunden hatte. Jedenfalls bekundeten wir schnell unser Interesse. In Amsterdam ist es dazu üblich, einen Text über sich zu verfassen, bevorzugt mit Foto, sowie Identitätsnachweise und Lohnzettel oder ähnliches vorzulegen. Wir schickten alle Unterlagen am Freitag Abend los und hofften auf Erfolg.

Am Samstag nutzten wir das herrliche Wetter und fuhren mit dem Fahrrad über Ouderkerk und Nes aan de Amstel nach Uithoorn, um dann eine Umrundung der Westeinderplassen (“Westender Pfützen”) zu wagen. Dies ist ein relativ großer Binnensee im Süden von Amsterdam. Am See trafen wir ein älteres Paar, das uns von ihren Radtouren quer durch Europa erzählte und davon, dass sie nunmehr Corona-bedingt zum ersten Mal auch Holland bereisten, wobei ihnen auffiel, dass hier überall Menschen seien. Diesen Eindruck konnte ich nachvollziehen, denn es scheint zumindest in dem westlichen Teil der Niederlande, der sogenannten Randstad, schwierig, ruhige, einsame Fleckchen zu finden. Das Land wird über große Flächen hinweg intensiv (landwirtschaftlich) bewirtschaftet, und auf der geringen verbleibenden Fläche verteilt sich relativ homogen eine Bevölkerung von ca. acht Millionen Menschen. Das bedeutet, dass man in den westlichen Niederlanden auch am Land so gut wie immer jemanden sieht, wenn auch nur in den großen Städten sehr viele Menschen auf einmal. Im Vergleich dazu sind z.B. französische Städte deutlich dichter bewohnt, aber außerhalb der wenigen großen Städte fällt die Bevölkerung rapide ab und man sieht fast niemanden mehr, was sich u.a. in der Diagonale du vide äußert. In Österreich sind aus meiner Sicht die Städte mittel besiedelt, und außerhalb davon findet man sehr lebendige Dörfer (häufiger als in Frankreich), findet aber außerhalb davon auch einsamere Gegenden (häufiger als in den westlichen Niederlanden).

Jedenfalls war ich ein wenig enttäuscht von der Tour um die Westeinderplassen, denn der Radweg am See war fast immer mit Autos geteilt, was ein Nebeneinanderfahren relativ stressig gestaltete. Außerdem stellte es sich heraus, dass ein guter Teil des ursprünglich von mir geplanten Radwegs nur über eine Fähre erreichbar war, die allerdings schon am 1. November ihren Betrieb eingestellt hatte. Es waren sehr viele Leute unterwegs, auch auf Booten; alle wollten das schöne Wetter genießen.

Bei unserer Rückkehr nach Amstelveen ging dann alles Schlag auf Schlag. Zuerst erreichte uns die Nachricht, dass Joe Biden die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte. Und kurz darauf erhielten wir die Nachricht, dass wir den Zuschlag für das Appartement in der Esmoreitstraat erhalten hatten! So mussten wir zweimal anstoßen, und zwar mit österreichischem Wein. ;) Der kleine Wermutstropfen an der Esmoreitstraat ist allerdings, dass wir sie erst am 1. Dezember beziehen können, was bedeutet, dass wir noch ca. drei Wochen zu zweit in einem Zimmer ausharren und die über uns hinwegdonnernden Flugzeuge über uns ergehen lassen müssen. Doch die Aussicht auf die baldige Änderung unseres Zustands macht diesen zumindest etwas erträglicher.

Unsere neue Wohnung liegt in einer Gegend namens Erasmusparkbuurt, wobei “buurt” soviel wie “Gegend” oder “Viertel” bedeutet, was sich im Begriff “rosse buurt” für “Rotlichtviertel” manifestiert. In der Umgebung unserer Wohnung befinden sich viele Straßen, die Namen von Theaterstücken und (fiktiven) Personen aus der Zeit von Erasmus von Rotterdam tragen. Zum Beispiel ist Esmoreit ein mittelniederländisches Theaterstück, und in der Umgebung befinden sich unter anderem eine Tijl Uilenspiegelstraat sowie eine Lanseloetstraat. Die Amsterdamer scheinen eine Vorliebe für solche Themen-Viertel zu haben. So gibt es weiter südlich eine Stadionbuurt mit Namen wie Olympiaweg, Herculesstraat, Sportstraat, und Discusstraat. Das sehr moderne Geschäftsviertel Zuidas ist geprägt von Namen wie Gustav Mahlerlaan, Arnold Schönberglaan, George Gershwinlaan. Für deutsche/österreichische Ohren etwas ungewohnt sind technisch benannte Straßen wie Kabelweg, Turbinestraat, Generatorstraat, und Isolatorweg (eine U-Bahn-Endhaltestelle).